Ergebnisse

Vorgestellt werden hier im Überblick Ergebnisse aus den Modulen des Projektes Schweiz – Ungarn, Erkenntnisse zu Partizipation und Zusammenarbeit sowie Meinungen der Mitwirkenden zum Projekt. Weitere Einblicke geben die Filme und Texte.

Welche organisationalen Aspekte von Jugendheimen wirken förderlich auf die Selbstbefähigung der jungen Menschen: ihre Fähigkeit, bereits während ihrer Zeit im Heim ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, eigene Vorstellungen ihrer Zukunft zu entwickeln und diese aktiv und nachhaltig zu verwirklichen? Diese Frage stand im Zentrum von Modul 1: Wissen heben. Da die CoP-Mitglieder Innovationen zur Förderung der Selbstbefähigung der jungen Menschen in ihren eigenen Organisationen entwickeln wollten, war es wichtig, ihr eigenes Wissen zu heben und für sich sichtbar zu machen. Gleichzeitig waren die durchgeführten Fokusgruppendiskussionen für sie eine gute Gelegenheit, mit den zentralen Themen von Creating Futures vertraut zu werden und zu diesen in Austausch und gemeinsame Wissensentwicklung zu kommen.

 

Die Haupterhebung zu dieser Frage fand im ersten Semester 2019 mittels 12 leitfadengestützten Fokusgruppendiskussionen in den mitwirkenden Organisationen in der Schweiz und Ungarns statt, ergänzt um eine systematische Literaturanalyse in wissenschaftlichen Literaturdatenbanken. Die mitwirkenden Young Experts, Mitarbeitenden und Leitenden bestimmten insgesamt zehn Hauptaspekte der Organisaton, welche aus ihrer Sicht in Jugendheimen Selbstbefähigung beeinflussen: Strukturelle Eigenschaften, Eigenschaften der sozialpädagogischen Mitarbeitenden, Fachwissen/Selbstreflexion von Mitarbeitenden, Mitarbeiterführung, sozialpädagogische Prozesse, Ansätze und Methoden, Haltungen sowie Beziehungen und Netzwerke der Jugendlichen. Die Young Experts betonten zudem die Bedeutung ihrer eigenen Ressourcen. Der Vergleich mit einem Modell der Organisation (Rüegg-Stürm 2003) zeigte „blinde Flecken“ seitens der Befragten auf, d.h. nicht genannte, für die Förderung der Selbstbefähigung ebenfalls relevante Aspekte (z.B. Managementprozesse der Organisation), die in den Folgemodulen ebenfalls ins Licht gerückt wurden (Schmid 2020).

 

In weiteren Fokusgruppendiskussionen und Young Expert Exchanges hielten die Young Experts u.a. fest, wie sie sich ihre Zukunft und Wege im Leben vorstellten, welche Herausforderungen sie dabei erlebten, was ihnen bei deren Überwindung behilflich war oder auch, wie das «ideale Heim» aussehen würden, in welchem «es allen Jugendlichen gelingt, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, eigene Vorstellungen ihrer Zukunft zu entwickeln und diese aktiv und nachhaltig zu verwirklichen.»

 

Alle Akteursgruppen erwähnten Beziehungen als sehr wichtig für Selbstbefähigung. Insgesamt 195 Young Experts aus den mitwirkenden Organisationen hielten ihre wichtigen Beziehungen außer- und innerhalb ihrer Wohngruppen bzw. Jugendheime fest und beschrieben, wie diese sein sollten, um ihre Selbstbefähigung zu fördern (Schmid/Rüegg/Tobler 2022). Ihre Handlungsempfehlungen und Hinweise lösten u.a. eine Diskussion in der CoP zu Bezugspersonen in den Einrichtungen aus. Die ungarischen Mitwirkenden wünschen sich mehr Mitarbeitende, welche weniger überlastet sind und mehr Zeit für die Beziehung zu den Jugendlichen haben. Die Schweizer Mitwirkenden unterstreichen Herausforderungen für Beziehungen, welche durch Zuteilung einer Bezugsperson per Stellenplan hergestellt werden und nicht, wie im normalen Leben, aufgrund gegenseitiger Sympathie entstehen. In mindestens einer der Organisationen sind seither diesbezüglich Änderungen eingeführt worden.

In diesem Teil ging es darum, in jeder der mitwirkenden Organisationen festzustellen, welche organisationalen Aspekte bereits die Selbstbefähigung der jungen Menschen fördern, und bei welchen es diesbezüglich Entwicklungsbedarf bzw. -potential gibt. Die Leitenden, Mitarbeitenden und Young Experts der CoP Kerngruppenmitglieder wählten zunächst aus ihrer Sicht und je für ihre eigene Organisation bedeutsame oder auch besonders aktuelle Aspekte der Organisation aus. Daraufhin bestimmten sie ein Vorgehen, wie sie analysieren würden, inwieweit diese bereits förderlich für die Selbstbefähigung sind oder der Entwicklung bzw. Innovation bedürfen. In einer der Schweizer Organisationen wurde z.B. der Vorschlag der Young Experts angenommen, eine Fragebogenbefragung aller Mitarbeitenden sowie Befragungen aller Wohngruppen durchzuführen. Die Young Experts aus der Kerngruppe übernahmen daraufhin mit die Führung bei der Organisation, Durchführung und Auswertung dieser Befragungen.

Über alle Organisationen gesehen stellten die bei den Analysen mitwirkenden Young Experts, Mitarbeitenden und Leitenden bei folgenden Aspekten sowohl gute Praxis als auch Entwicklungsbedarf bezüglich der Förderung von Selbstbefähigung fest:

  • Zusammenarbeit von Mitarbeitenden und Jugendlichen
  • Einbezug der Ressourcen der Jugendlichen
  • Möglichkeiten des „Selber-Ausprobierens“ seitens der Jugendlichen
  • Förderung der lebenspraktischen Fähigkeiten und der Sozialkompetenz
  • Verfügbarkeit und Eigenschaften der Mitarbeitenden
  • Förderung von eigenständiges Meinungsbildung und kritischen Denken
  • Umgang unter den Jugendlichen in und ausserhalb der Wohngruppe
  • Pflege der Beziehung der Mitarbeitenden zu den Jugendlichen
  • Stabilität bzw. Stabilisierung der Jugendlichen sowie Begleitung von familiären Beziehungen

Bei folgenden Aspekten bestimmten sie ausschliesslich Entwicklungsbedarf:

  • Zulassen und Fördern von Selbstbestimmung der Jugendlichen
  • Umgang mit dem sozialen Netzwerk der Jugendlichen
  • Thematisierung von Beziehungsthemen
  • Stellenprozente und Arbeitsplanung

Angeregt durch den Austausch untereinander hatten die mitwirkenden Organisationen bereits seit Anfang des Projektes einzelne Innovationen erprobt und eingeführt. So führte z.B. in eine der Organisationen ein von Young Experts vorgeschlagenes und gepflegtes Pinboard ein, wo alle Jugendlichen Vorschläge zur Förderung ihrer Selbstbefähigung machen konnten. Der dritte Teil des Projektes war nun ganz den Innovationen gewidmet. In jeder der Organisationen entwarfen Young Experts, Mitarbeitende und Leitende mit verschiedenen Vorgehensweisen und in verschiedenen Zusammensetzungen gemeinsam konkrete Innovationen und probierten sie aus.

Die Innovationsentwicklung und -erprobung wurde in vier Runden von je drei Monaten Dauer und einer fünften «Extrarunde» von vier Monaten durchgeführt. Mit insgesamt mehr als 30 Innovationen entstand dabei eine wesentlich grössere Anzahl von Innovationen als das ursprünglich im Projektplan vorgesehene Minimum von einer Innovation pro Organisation. Das wissenschaftliche Team wertete in jeder Runde die Vorgehensweisen, Ergebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse aus und erstellte vergleichende Zwischenberichte mit Feedback an die CoP-Mitglieder und Empfehlungen für die weiteren Runden. Diese wurden ergänzt um Selbstbeurteilungen der Arbeiten in den eigenen Organisationen sowie um gegenseitige Beurteilungen und Empfehlungen der Organisationen untereinander. Alle vier bis sechs Wochen wurden abwechslungsweise binationale und nationale Online-Sitzungen durchgeführt für den Austausch zu den verschiedenen Vorgehensweisen, die Planung nächster Schritte und die Diskussion von Ergebnissen und Erkenntnissen. Bei diesen wirkten jeweils die CoP Kerngruppenmitglieder mit, oft ergänzt um weitere interessierte Personen aus ihren Organisationen.

Die erprobten Innovationen sind vielfältig und unterschiedlich umfangreich. Sie reichen von der gemeinsamen Etablierung von Gemüse- und Blumengärten und Begleitdiskussionen zu Gesundheit, Ernährung etc. über neue Austausch- und Weiterbildungsangebote für Jugendliche bzw. Mitarbeitende und Personalselektionsverfahren, welche Young Experts einbeziehen, bis hin zur Überarbeitung des Berufsbildungskonzepts in einer der Organisationen und des sozialpädagogischen Konzeptes in einer weiteren Organisation. Bei vielen der Innovationen ist es nicht beim Ausprobieren geblieben, sondern sie sind fest in der jeweiligen Organisation übernommen worden. Bei einzelnen erprobten Innovationen ist es aber aufgrund der gemachten Erfahrungen (z.B. «kam schlussendlich doch nicht gut an» oder «hat nicht gut funktioniert») auch bei einer einmaligen Aktivität geblieben.

Viele der Innovationen betreffen Partizipation und Zusammenwirken in der Einrichtung und können u.a. wie folgt geordnet werden:

  • Gemeinsame explizite Bearbeitung des Themas Partizipation durch alle Akteursgruppen.
  • Vermehrte Mitwirkung von Jugendlichen bei sie betreffenden Besprechungen und Aktivitäten zu höheren Graden der Partizipation.
  • Stärkerer Einbezug von Jugendlichen und Mitarbeitenden in Themen der Organisation, inklusive z.B. der Mitarbeiterselektion; Leitungspersonen teilen diese Verantwortung vermehrt.
  • Mitarbeitende fragen Jugendliche vermehrt nach ihrer Meinung, übergeben ihnen mehr Verantwortung.
  • Verantwortung der Bezugspersonen wird mehr auf das ganze Team verlegt.
  • Leitende pflegen ihre Beziehung zu den Jugendlichen durch gemeinsame Themenbearbeitung und regelmässige Kontaktpflege.

Im letzten Teil des Projektes war ursprünglich lediglich vorgesehen, die gesamten durchlaufenen Prozesse, Ergebnisse und Erkenntnisse zu verschriftlichen und ansonsten Creating Futures im weiteren Fachfeld bekannt zu machen. Insbesondere die CoP Kerngruppenmitglieder aus den verschiedenen Organisationen machten aber deutlich, dass sie das Projekt und insbesondere seine Partizipations- und Zusammenarbeitsprozesse sehr positiv erlebt hätten und diese in ihren Organisationen verankern wollten. Sie beschlossen, zusätzlich einen Codex zu erstellen mit Leitsätzen, zu deren Beachtung sie sich in ihren Einrichtungen künftig selbst verpflichten würden. Dieser sollte auf ihren Erkenntnissen aus Creating Futures aufbauen und auf die Partizipation der Jugendlichen sowie das Zusammenwirken von Young Experts, Mitarbeitenden und Leitenden ausgerichtet sein.

In einem binationalen, kombinierten Young Expert Exchange und CoP Kerngruppentreffen haben im August 2022 21 Young Experts aus der Schweiz und Ungarn einen Codex für Partizipation und Zusammenarbeit erstellt. Mit dem Ziel der Förderung der Selbstbefähigung der jungen Menschen bezieht sich dieser Codex auf verschiedenste relevante Themen der Organisation und Praxis der Jugendheime und damit des Zusammenlebens und -wirkens der Jugendlichen, Mitarbeitenden und Leitenden.

Die Leitenden und Mitarbeitenden haben derweil an einem Modell der Haltungen gearbeitet, welche sie als notwendig für Partizipation und Zusammenarbeit im Stil von Creating Futures beurteilen. Dieses umfasst Haltungen jeder der drei Akteursgruppen. Als am wichtigsten nennen sie die von der Gemeinschaft Aller geteilten Haltungen. «Tief beeindruckt von den Ergebnissen der Jugendlichen», wie es der Geschäftsleiter einer der Schweizer Organisationen formulierte, entschlossen sich die Mitwirkenden über das bevorstehende Finanzierungsende hinaus weiter an einem für je ihre Einrichtung passenden Kodex zu arbeiten und sich dabei nach dem Codex der Young Experts zu richten. Dabei sollen nicht «Standards, die in der Schublade landen» entstehen, sondern ein Codex, der von den Akteursgruppen gelebt wird und von ihnen in Inhalt und Umsetzung immer wieder neu diskutiert und ausgehandelt wird.

Beim bisher letzten gemeinsamen Treffen hat das Gfellergut seinen PartYzipation Rap vorgestellt, eine Ko-Produktion von Mitarbeitenden, Young Experts und dem Gesamtleiter als Mit-Rapper, basierend auf dem Codex der Young Experts. Wie ein ungarischer Senior Young Expert im Film über das Young Expert Exchange und Community of Practice Treffen 2022 sagt: «Wir müssen an Creating Futures dranbleiben. Wenn wir dran bleiben, dann ist alles möglich (‹the sky is the limit›).» Wer weiss also, was aus Creating Futures noch alles werden wird, bei den Young Experts, Mitarbeitenden und Leitenden der CoP Schweiz – Ungarn und in weiteren Jugendheimen in der Schweiz, Ungarn und International, die es auch einmal miteinander probieren wollen!

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